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Forschungshintergrund

Bilinguale Kinder erlernen beide Sprachen auf ähnliche Weise wie die entsprechenden monolingualen Kinder, wenn sie mit dem Erwerb beider Sprachen in den ersten zwei Lebensjahren beginnen und der Input quantitativ und qualitativ ausreichend ist. Das belegen eine Vielzahl von Studien. Anders ist es bei bilingualen Kindern, die die zweite Sprache erst mit dem Eintritt in den Kindergarten oder später, etwa mit dem Beginn der Schule lernen. Dieser sukzessive Bilingualismus ist bislang nur unzureichend erforscht. Bekannt ist jedoch, dass der Spracherwerb insbesondere eines sukzessiv bilingualen Kindes in beiden Sprachen von vielen Faktoren abhängt (vgl. Klein 1992):

dem Alter beim Erstkontakt mit der Spracheder Kontaktzeitder Menge des Inputsder Motivation und emotionalen Einstellung gegenüber der jeweiligen Erst- oder Zweitspracheder Ähnlichkeit der jeweiligen Erst- und Zweitsprache...

Zum jetzigen Zeitpunkt ist der Einfluss dieser Faktoren nur in einigen Studien untersucht worden, so dass Aussagen über einen typischen oder einen atypischen Spracherwerbsverlauf kaum möglich sind. Diese Information aber ist notwendig für die Beurteilung der sprachlichen Leistungen von Kindern, die Schwierigkeiten beim Sprachlernen zeigen. Manche Kinder werden übersehen, weil man ihre Auffälligkeiten für "normal" im bilingualen Spracherwerb hält, andere erhalten Therapien, die sie nicht benötigen – eine gute Sprachförderung wäre hier besser gewesen.

7% aller Kinder - also auch der mehrsprachigen – haben eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES), d.h. eine Störung im Verstehen und in der Produktion der jeweils zu lernenden Sprache. Diese Störung ist weder mit sensorischen, emotionalen oder neurologischen Defiziten noch mit mangelnder Intelligenz zu erklären. Zur Diagnostik werden Tests zu den verschiedenen sprachlichen Bereichen (Wortschatz, Grammatik, Narrativik in der Produktion und im Verstehen) und zum verbalen Arbeitsgedächtnis eingesetzt. Denn es wurde beobachtet, dass die Verarbeitungskapazität bei Kindern mit SSES deutlich eingeschränkt ist (Limited Processing Capacity Hypothesis;u.a. Johnston 1994, Charest & Johnston 2011, Gathercole & Baddely 1990, Weinert 2000). Kinder mit einer SSES benötigen möglichst früh Unterstützung durch Sprachtherapie, um ihre sprachlichen Defizite zu verringern und um später in der Schule mithalten zu können.

Bei mehrsprachigen Kindern tritt die Sprachstörung immer in beiden Sprachen des Kindes auf. Somit ist die Kenntnis der sprachspezifischen Symptome einer SSES als Orientierung essenziell:

So treten im Russischen vornehmlich Kongruenz- und Kasusprobleme auf (Filicheva et al. 1993, Abrosova 2004, Tribushinina & Dubinkina 2012).Im Deutschen sind vor Allem die Verbstellung (Hamann et al. 1998), Subjekt-Verb-Kongruenz (Clahsen 1988) und oft auch die Kasusmarkierungen betroffen (Eisenbeiss et al. 2006, Lindner 2011).

Die zu beobachtenden Symptome einer SSES ähneln den typischen Fehlern, die bilinguale Kinder machen (Paradis 2005, Rothweiler 2007). Das erschwert die Differenzialdiagnose zusätzlich.

Eine Diagnostik sollte daher in beiden Sprachen erfolgen und nicht nur die verbalen Bereiche beinhalten (Chilla 2008). Denn auch in nichtsprachlichen Aufgabenstellungen konnten bei Kindern mit SSES Auffälligkeiten belegt werden. Dazu gehören u.a.:

Eine geringere Verarbeitungskapazität im auditiven Arbeitsgedächtnis (e.g. Johnston 1994, Charest & Johnston 2011), die auch musikalisch-rhythmische Leistungen umfasst (u.a. Weinert 2000, Jentschke et al. 2008, Sallat 2008)Auffälligkeiten in der Aufmerksamkeitssteuerung zum Beispiel bei Aufgaben zur geteilten Aufmerksamkeit (Kohnert et al. 2006)

Mit dem Ziel neue Erkenntnisse zur typischen Sprachentwicklung bilingualer Kinder und zur Diagnose einer SSES zu gewinnen, werden 200 sukzessiv bilinguale Kinder (russisch-deutsch) in München (Projekt SEDRiK) und Berlin (Projekt DRUSLI) umfassend hinsichtlich ihres Sprachentwicklungsstandes in beiden Sprachen sowie in den oben genannten nonverbalen Bereichen untersucht.

Literaturangaben:

Charest, M. & Johnston, J. R. (2011). Processing load in children’s language production. A clinically oriented review of research. Canadian. Journal of Speech-Language-Pathology and Audiology 35, 18-31.

Chilla, S. (2008). Erstsprache, Zweitsprache, Spezifische Sprachentwicklungsstörung? Eine Untersuchung des Erwerbs der deutschen Hauptsatzstruktur durch sukzessiv-bilinguale Kinder mit türkischer Erstsprache. Hamburg: Verlag Dr. Kovač.

Gathercole, V. & Baddeley, A. (1990). Phonological memory deficits in language impaired children: Is there a causal connection? Journal of Memory and Language 29, 336-360.

Jentschke, S., St. Koelsch, St. Sallat, & A. D. Friedrici (208). Children with specific language impairment also show impairment of music-syntactic processing. Journal of Cognitive Neuroscience 20, 1940-1951.

Johnston, J. R. (1994). Cognitive abilities of children with language impairment. In: Watkins, R. V. & Rice, M. L. (eds.), Specific language impairments in children. 107-121. Baltimore, Maryland: Brookes.

Kohnert, K., Windsor, J., & Dongsun, Y. (2006): Do language-based processing tasks separate children with language ompairment from typical bilinguals. Learning Disabilitiy Research & Practice 21 (1), 19-29.

Paradis, J. (2005). Grammatical morphology in children learning English as a second language implications of similarities with specific language impairment. Language, Speech, and Hearing Services in the Schools 36, 172-187.

Rothweiler, M. (2007). Multilingualism and specific language impairment (SLI). In Auer, P. & Wei, L. (Eds.), Handbook of multilingualism and multilingual communication 229-246. Berlin: Mouton de Gruyter.

Sallat, S. (2008). Musikalische Fähigkeiten im Fokus von Sprachentwicklung und Sprachentwicklungsstörungen. Idstein: Schulz-Kirchner.

Weinert, S. (2000). Sprach- und Gedächtnisprobleme dysphasisch-sprachgestörter Kinder: Sind rhythmisch-prosodische Defizite eine Ursache? In Altenmüller, E. et al. (eds.), Rhythmus. Ein interdisziplinäres Handbuch. 255-283, Bern.